„Tu peux prendre quelques photos de moi?“ – „Oui, bien sûr“ antworte ich, nachdem mein Gegenüber seine Frage noch einmal wiederholt hat und ich ihn im zweiten Anlauf verstanden habe. „Mais donnez-moi un moment.“
Es ist Ende Juni und ich stehe bei -4 °C auf 3450 m im Pulverschnee. Der Kerl, der mich angesprochen hat, ist offenbar durch die Spiegelreflexkamera in meinen Händen auf mich aufmerksam geworden und bittet mich, einige Fotos von ihm zu machen. Schnell drücke ich noch ein paar mal auf den Auslöser, während die Seilbahn die Bergstation verlässt und hinter einer Felskuppe in Richtung Talstation entschwebt.
Wir machen eine kurze Fotosession auf der menschenleeren Abfahrt – erst mit dem Panorama im Hintergrund, anschließend noch ein paar bei der Abfahrt, und dann will er mir einen ausgeben. Kaum dass er sicher ist, dass ich verstanden habe, entschwindet mein neuer Bekannter in weiten Carvingschwüngen in Richtung Tal.
Tags zuvor bin ich angekommen, zunächst über die A 81 bis zum Bodensee, dann durch die Schweiz, bei Bern zum ersten Mal seit Jahren nicht nach Lausanne sondern über Fribourg ans östliche Ende des Genfer Sees und weiter nach Martigny ins Wallis, über den Großen St. Bernhardpass ins Aostatal, um dann bei Courmayeur auf die Straße zum Kleinen St. Bernhard abzubiegen, die mich schließlich nach Frankreich in die Haute-Tarentaise bringen soll. Es ist für mich eine neue Form des Reisens, alleine und auf eigene Faust, spontan und frei, aber auch mit langen und einsamen Autofahrten.
So erreiche ich Tignes nach etwa zehnstündiger Reise gegen 20 Uhr am Abend. Mein Quartier, das ich einige Tage zuvor per Internet gebucht habe, ist schnell gefunden. Es handelt sich um eine Art Ferienhaus, dessen Zimmer im Sommer günstig einzeln vermietet werden. Keine klassische Pension sondern auf Selbstversorgung ausgelegt.
Mit dem Zahlencode, den man mir gemailt hat, erhalte ich Zutritt und finde auch sofort mein Zimmer. Doch von der Verwalterin, die hier nach dem Rechten sehen soll, ist nichts zu sehen. Ein Stockwerk tiefer finde ich einen großzügigen Wohnbereich vor, wo in der zugehörigen Küche gerade ein Pärchen mit der Zubereitung seines Abendessens beschäftigt ist. Meine – so glaube ich jedenfalls – in sauberem Französisch ausformulierte Frage nach der Verwalterin stiftet bei den beiden jedoch nur Verwirrung, und mit Englisch scheinen sie zu meiner Verwunderung erst auch nicht viel anfangen zu können, als plötzlich das Stichwort „german“ fällt. Hätte ich mir ja gleich denken können, dass die günstigste Unterkunft, die in Tignes um diese Jahreszeit nur nach ausführlicher Suche zu finden ist und die nicht auf der offiziellen Webseite auftaucht, natürlich nur von meinen Landsleuten bewohnt werden kann. Das Eis ist nun jedenfalls schnell gebrochen, die beiden sind aus Karlsruhe und am selben Tag mit dem Motorrad hergefahren, um sich das Skigebiet, das sie von vielen Besuchen im Winter kennen, im Sommer anzusehen.
Einige Zeit später schlendere ich durch Tignes-le-Lac auf der Suche nach einer Verpflegungsmöglichkeit. Schnell wird mir klar, dass die Saison hier noch nicht angefangen hat. Obwohl die Straßen hell erleuchtet sind wirkt der Ort wie ausgestorben. Die meisten Gebäude sind dunkel und nur ganz vereinzelt sind Leute unterwegs. Auch die meisten Restaurants sind geschlossen. Irgendwann finde ich jedoch eine offene Kneipe, die über ein halbwegs brauchbares Essensangebot verfügt. Aber eine andere Wahl habe ich ohnehin nicht, draußen bricht langsam die Nacht herein, ich habe seit Stunden nichts gegessen und wer weiß wie lange hier in dieser einsamen Jahreszeit die Küche besetzt ist. Also trete ich ein.
Die Tische im vorderen Teil sind leer, die wenigen Gäste haben ausnahmslos hinten in der Nähe der Bar Platz genommen. Auf dem Weg dorthin steht ein Pizzaofen, an dem gerade eine Frau mit einer etwas seltsamen Frisur, die ein bisschen nach Althippie aussieht, mit der Zubereitung der Speisen beschäftigt ist. Ich bin mir in diesem Moment nicht sicher, ob es eine gute Idee war, hier einzukehren. Das junge Mädel an der Bar relativiert diesen Eindruck dann aber zum Glück gleich wieder etwas.
Ich bestelle einen Cheeseburger mit Pommes und ein Bier. Nebenbei mustere ich die anderen Gäste. Am Nebentisch sitzt ein braungebrannter Surfertyp, der gierig sein Steak verdrückt und zwischendurch abwechselnd mit seinem iPhone spielt oder mit der jungen Kellnerin flirtet. Er scheint hier bekannt zu sein, wahrscheinlich arbeitet er irgendwo als Unterhalter für gelangweilte Großstädter, die hier oben ihren Sommerurlaub verbringen. Die Tische dahinter sind besetzt von vornehmlich älteren Herren, die ebenfalls hier zu Abend essen. Ob dies die einheimischen Hotelbesitzer sind, die für die Vorbereitung der bevorstehenden Sommersaison wieder hier heraufgekommen sind, oder gar Leute von den Bergbahnen? Nach Touristen sehen sie jedenfalls nicht aus. Ich versuche, ihren Gesprächen zu folgen, erhalte aber keine weiteren Anhaltspunkte. Von Zeit zu Zeit taucht die Althippiefrau aus dem Hintergrund auf und serviert das Essen.
Als ich gegessen habe, wird mir plötzlich ein Dessert hingestellt, das ich nicht bestellt habe. Schnell und zur Belustigung der jungen Kellnerin hinter der Bar klärt sich der Irrtum auf, es ist eigentlich für den braungebrannten Typ am Tisch gegenüber bestimmt. Auf diese Weise komme ich mit der Althippiefrau ins Gespräch. Ob ich hier oben arbeiten würde, will sie wissen. Ich erkläre ihr, dass ich zum Skifahren hier bin, und ernte für eine solche Aussage um diese Jahreszeit ausnahmsweise einmal keine entgeisterten Blicke. Nachdem ihr offenbar schnell klar wird, dass Französisch nicht meine Muttersprache ist, wechselt sie von sich aus auf Englisch und will wissen wo ich herkomme. „I’m German“, antworte ich höflich aber etwas widerwillig, woraufhin mir plötzlich in bestem Deutsch erklärt wird, sie käme ursprünglich aus dem Elsass, wäre aber seit 30 Jahren hier oben in Tignes hängengeblieben. Ich frage mich in diesem Moment ernsthaft, wozu ich sieben Jahre lang Französisch gelernt habe.
Wir plaudern noch ein wenig über dies und das, sie beklagt sich ein bisschen über die ganzen Engländer, die ständig nach Jobs fragen würden aber keine Lust hätten, Französisch zu lernen, was doch aber eine Grundvoraussetzung sei, wenn man hier arbeiten wollte. Ich erfahre auch, dass sie nie auf die Idee gekommen wäre, dass ich Deutscher wäre, was mich freut, denn wer möchte schon im Ausland als deutscher Tourist erkannt werden. Zum Schluss bekomme ich sogar noch einen Schnaps aufs Haus.
Zurück in meinem Quartier unterhalte ich mich noch ein bisschen mit den Karlsruhern über die Vorzüge des Skigebiets, bevor ich todmüde ins Bett falle.
Ich schlafe nicht besonders gut in dieser Nacht. Als gegen 6:30 Uhr am nächsten Morgen der Wecker klingelt, bin ich bereits seit einer Stunde wach. Mühsam quäle ich mich aus dem Bett ins Bad, anschließend suche ich meine Sommerski-Klamotten zusammen und fahre hinüber nach Val Claret. Der riesige Parkplatz ist noch weitgehend leer, nur einige wenige Trainingsgruppen sind da. Während ich an der Kasse anstehe – es ist kein Mensch weit und breit, nur der Typ vor mir hat Probleme mit der Kartenzahlung – schreibe ich eine kurze SMS an trinc.
Wir hatten diesen Trip bereits vor längerer Zeit lose ins Auge gefasst gehabt, doch eine Woche zuvor sah es bei ihm terminlich dann doch nicht mehr so gut aus. Ich beschloss daraufhin, notfalls alleine zu fahren, und plante entsprechend unabhängig. Doch just zu dem Zeitpunkt, als ich am Vortag losfahren wollte, erreichte mich eine eMail, dass es bei ihm doch noch klappen würde. Da aber im Gegensatz zu Süddeutschland Fronleichnam in Niedersachsen kein Feiertag ist, konnte er zusammen mit seiner Freundin erst am späten Nachmittag aufbrechen. Wir entschieden daher, uns sinnvollerweise erst am nächsten Tag in Tignes zu treffen, vereinbarten jedoch keinen genauen Treffpunkt
Aber meine SMS bleibt unbeantwortet. Da ich nicht weiß, wann die beiden in der Nacht eingetroffen sind und davon ausgehe, dass sie möglicherweise noch schlafen, beschließe ich, schon einmal zum Gletscher hinauf zu fahren. Leider fährt die Tunnelbahn im Sommer nur mit reduzierter Geschwindigkeit, was nicht nur die Fahrzeit fast verdoppelt sondern auch das Fahrerlebnis deutlich schmälert. Wo man im Winter das Gefühl hat, förmlich durch die Tunnelröhre hindurch geschossen zu werden, zuckelt die Bahn nun eher gemütlich vor sich hin. Auch das Pfeifen des Fahrtwindes um die Kabine ist folglich längst nicht so intensiv. Was ich bergwärts zunächst nur vermuten kann, bestätigt sich später bei der Talfahrt: Die Geschwindigkeitsanzeige im Führerstand stagniert bei schlappen 7 m/s, während bei Hochbetrieb stolze 12 m/s erreicht werden.
Oben angekommen, mache ich zunächst einige Fotos und checke noch einmal mein Handy auf Antwort von trinc – Fehlanzeige. Also nehme ich gleich die Pendelbahn hinauf zur Grande Motte.
Auf der Einstiegsplattform bin ich zunächst vollkommen allein. Wo sich im Winter die Massen stauen, ist heute kein Mensch unterwegs. Auch die riesige Kabine für 115 Personen ist, als ich einsteige, vollkommen leer. Erst einige Zeit später, nachdem die nächste Bahn aus dem Tal eingetroffen ist, füllt sie sich langsam. So habe ich Zeit, mich in aller Ruhe umzusehen, während der Kabinenbegleiter noch auf dem Dach herumturnt und etwas Eis entfernt, das sich über Nacht an der Aufhängung festgesetzt hat. Überhaupt ist es eisig kalt an diesem Morgen und ich bin froh, meine Mütze eingepackt zu haben. Obwohl offiziell nur -4 °C gemeldet werden, fegt oben ein eisiger Wind über den Kamm. Dafür liegt auf den oberen 250 Höhenmetern der Abfahrt feinster Pulverschnee, wie er auch im Januar nicht besser sein könnte. Ich drehe einige Runden über die teilweise noch recht harten Abfahrten, dann spricht mich der eingangs erwähnte Franzose an.
Als wir die Bar bei der Bergstation der Tunnelbahn verlassen, ist es bereits nach neun Uhr und trinc hat sich noch immer nicht gemeldet. Zwischendurch habe ich versucht, anzurufen, doch obwohl ich eindeutig Empfang habe und SMS scheinbar korrekt gesendet werden, lässt sich keine Verbindung aufbauen. Irgendwie kommt mir die Sache komisch vor, erst recht da wir zuletzt am Spätnachmittag des Vortages Kontakt hatten, als er noch zu Hause war. Ich habe keine Ahnung wie die nächtliche Fahrt verlaufen ist und ob die beiden überhaupt wie geplant angekommen sind. Da ich aber ohnehin außer abzuwarten nichts anderes tun kann, schiebe ich diese Gedanken schnell wieder beiseite und gehe noch eine Runde Ski fahren. Langsam firnen nun endlich die mittleren Pistenabschnitte auf, dafür machen sich Schleierwolken breit und das satte morgendliche Blau des Himmels verwandelt sich mehr und mehr in ein milchiges Weiß. Da der Liftbetrieb ohnehin um 13 Uhr eingestellt wird, gilt es, die noch verbleibende Zeit ausgiebig zu nutzen. So stehe ich bald wieder oben an der Grande Motte und ziehe Schwung um Schwung über die angenehm leeren Pisten, von denen heute nur ein ganz kleiner Bereich entlang der Rossolin-Schlepplifte für den Trainingsbetrieb abgesperrt ist. Der Stillstand der Leisse-Sesselbahn bleibt skifahrerisch gesehen der einzige Wermutstropfen dieses Tages.
Dann endlich piepst mein Handy: „Hatte keinen Empfang, sind jetzt in der Bar bei der Funi-Bergstation“. Also los.
Unterbrochen von der einen oder anderen Pause reizen wir die verbleibende Zeit aus bis zum Ende. Die letzte Pistenkontrolle sitzt uns schon einige Zeit im Nacken, als wir hinter dem Personal der längst still eingestellten Schlepplifte in die kurze Sesselbahn steigen, die zurück zur Tunnelbahn führt.
Nachmittags besichtigen wir Val Claret, Pierre Schnebelens Musterstation von 1967, und relativ schnell wird mir klar, woher das berüchtigte Image dieser Hochhaussiedlung rührt. Im Gegensatz zu anderen Skistationen dieser Zeit ist hier scheinbar kaum etwas renoviert worden. Die verschmutzten und heruntergekommenen Fassaden geben selbst im inzwischen wieder strahlenden Sonnenschein dieses nun frühsommerlichen Tages ein äußerst trostloses Bild ab. Wenn diese Gebäude im Inneren nur annähernd so aussehen wie von außen, verwundert mich das grassierende Image von Val Claret keineswegs.
Vervollständigt wird das schiefe Bild von den Wohnblöcken vorgelagerten Ladenzeilen, allesamt in Holz und Naturstein gehalten. Wie in so vielen französischen Retortenorten hat man auch hier versucht, die Vergangenheit durch Pseudo-Dorfromantik zu kaschieren, mit dem bekannten, verstörenden Ergebnis. Für einen neuen Anstrich der Hochhäuser, was optisch wesentlich effektiver gewesen wäre, hat es aber offenbar nicht gereicht. Wie ich später erfahre, scheint dies mit der Eigentümerstruktur zusammenzuhängen – die meisten Appartements befinden sich offenbar in Privatbesitz, entsprechend wäre es nicht so einfach, sich auf solche Renovierungen zu einigen. Diese Argumentation scheint auch zunächst stichhaltig, und tatsächlich gibt es auch vereinzelt renovierte Wohnblöcke, die sich angeblich vollständig in der Hand von größeren Veranstaltern befinden, sie erklärt jedoch nicht warum beispielsweise das zentral gelegene Hotel Curling so heruntergekommen ist. Aber vielleicht täuscht dieser Eindruck auch, und innen sieht es ganz anders aus.
Für den Spätnachmittag schlägt trinc noch eine Wanderung durch die Gorges du Malpasset vor. Da ich in einem Anflug von geistiger Umnachtung die Wanderschuhe daheim gelassen habe, kapituliere ich jedoch schon nach kurzer Zeit vor der Ausgesetztheit des Weges oberhalb der Schlucht und gehe zurück zum Auto. Da ich aber auch keine Lust habe, dort zu warten, wandere ich statt dessen langsam die Passstrasse in Richtung Iséran hinauf, davon ausgehend dass ich mehr als genügend Zeit habe. Mit jedem Meter werden die Blicke interessanter und so gehe ich immer weiter und weiter, bis mich irgendwann aus heiterem Himmel eine SMS erreicht: „Sind zurück am Auto“. Den zweieinhalb Kilometer langen Rückweg lege ich in einem Tempo zurück, das jede Hausfrau beim Power Walking alt aussehen lässt.
Zum Tagesausklang gehen wir in Val d’Isère noch etwas essen, was wieder nicht so ganz einfach ist, denn auch hier hat die Saison noch nicht begonnen und vieles ist noch geschlossen.
Als ich am späten Abend zurück in mein Quartier komme, sind weitere Gäste eingetroffen – Deutsche natürlich, wie auch sonst im vermeintlich günstigsten Quartier von ganz Tignes, die die Tage zuvor eine Radtour in der Maurienne unternommen haben, dabei aufgrund des vielen Regens in ihrem Zelt beinahe abgesoffen wären und nun zum Schluß ihrer Tour noch eine Prise Sommerski auf der Grande Motte genießen möchten. Umgehend drückt man mir eine Dose Bier in die Hand und schon bin ich Teil einer angeregten Unterhaltung. Erst weit nach Mitternacht komme ich ins Bett.
Am nächsten Morgen um kurz nach sieben machen wir uns auf den Weg zum Col de l’Iséran und zu den Liften am Pissaillas-Gletscher. Zwölf Jahre ist es her, dass ich dort oben im August vorbei kam und die damals schon kümmerlichen Eisfelder von der Passhöhe aus betrachtete. An Sommerskibetrieb war damals schon kaum mehr zu denken. Erst 2005, mit dem Bau einer Beschneiungsanlage bis auf 3100 m Höhe, die dafür sorgte dass der Schnee auf der eisfreien Abfahrt zur Passhöhe länger liegen blieb, wurde der Sommerskilauf hier oben wieder möglich.
Dabei ist der Pissaillas-Gletscher eigentlich ein echter Klassiker. Die ersten drei Lifte gingen im Sommer 1963 in Betrieb, es handelt sich also um eines der alpenweit ersten mit Liften erschlossenen Sommerskigebiete, eines der ersten Frankreichs und älter als etwa sämtliche österreichischen Gletscherskigebiete. Bis zu zehn Lifte waren hier in der Blütezeit Anfang der 70er Jahre im Sommer in Betrieb, zunächst auch tatsächlich nur im Sommer denn eine Liftanbindung ans Winterskigebiet wurde erst auf die Saison 1972/73 realisiert.
Doch mit dem Niedergang des Sommerskilaufs und dem Abschmelzen des Gletschers erfolgte Zug um Zug der Rückbau. Um die Jahrtausendwende schien das Ende des Sommerbetriebs schon besiegelt, erst erhielt die Zubringersesselbahn 1999 keine Betriebserlaubnis mehr, dann, im Jahr darauf, wurde sie durch eine kuppelbare Vierersesselbahn ersetzt. Dafür muss der zweite Sessellift ersatzlos abgebaut werden (2001). Erst seit 2005, mit dem Bau einer Beschneiungsanlage bis auf eine Höhe von 3100 m und der gleichzeitigen Erneuerung des letzten verbliebenen Schlepplifts, erlebt der Sommerskilauf noch einmal eine kleine Renaissance – wenn auch nur für einige wenige Wochen im Juni und Juli. Doch es ist mehr als fraglich, wie lange der Betrieb auf diese Weise noch aufrecht erhalten werden kann.
Von der Passhöhe führt eine kurze, mit Schlaglöchern übersäte Strassenverbindung über die winterliche Skipiste zu den Liften. Einen ausgewiesenen Parkplatz gibt es nicht, man parkt einfach einigermaßen geordnet auf dem eingeebneten Pistengelände um die Talstation herum. Überhaupt befindet man sich hier oben noch sehr nahe bei den Wurzeln, es gibt weder eine richtige Kasse – die dafür notwendigen elektronischen Gerätschaften hat man im Stationshäuschen der Vierersesselbahn aufgestellt und verkauft die Liftpässe durch das Fenster – noch gibt es Verpflegungsmöglichkeiten und damit selbstverständlich auch keine Toiletten. Letzteres soll sich später am Tag noch als Problem erweisen.
Leider sind auch die letzten Meter der Talabfahrt bereits aper, so dass die Talabfahrt nur noch eingeschränkt möglich erscheint. Es sind auf jeden Fall einige Meter zu Fuß notwendig.
Kurze Zeit später schweben wir mit der Vierersesselbahn hinauf ins leider nicht mehr ganz so ewige Eis. Von den einst zahlreichen Gletscherliften ist nur noch ein einziger übrig geblieben. Da die Talabfahrt angesichts des wenigen Schnees bereits offiziell geschlossen ist, konzentriert sich der Skibetrieb entsprechend auf diesen einen, nicht allzu langen Schlepplift. Und das ist an diesem Morgen ein Problem. Das Publikum besteht zu 90% aus den Kinder- und Jugendgruppen umliegender Skiklubs, die offenbar samstags zum Sommertraining hier herauf gebracht werden. Dementsprechend herrscht am Lift ein enormes Gedränge aus halbwüchsigen Möchtegern-Rennfahrern und geschätzt bis zu zehn Minuten Wartezeit, was die Geduld selbst im Sommer irgendwann doch etwas strapaziert.
Nach einigen Fahrten stößt plötzlich starli zu uns, der entgegen meiner ursprünglichen Erwartung heute doch den Iséran angesteuert hat. Es stellt sich heraus, dass ich seine Anrufe unerklärlicherweise überhört habe. Zusammen probieren wir in der Folge die geschlossenen Talabfahrten aus. Hier sind die Bedingungen grandios, feinster Firn macht das Fahren auf und neben der Piste zum Hochgenuss und natürlich bleiben wir den ganzen Morgen die einzigen, die dort unterwegs sind. Da stören auch die paar Meter Fußmarsch zum Sessellift nicht weiter.
Leider schließen die Lifte am Pissaillas schon um 12 Uhr und damit noch eine Stunde früher als in den meisten anderen Sommerskigebieten. Damit bleiben einem auch die Trainingsgruppen, die andernorts um diese Zeit das Feld räumen und noch die eine oder andere Runde auf den sonst abgesperrten Hängen ermöglichen, bis fast zum Ende erhalten, und natürlich wird auch die Schlange am Schlepplift nicht kürzer. So kommen wir erst ganz zum Schluss darauf, dass im freien Gelände links des Schlepplifts traumhafter Firn wartet.
Selbstverständlich sind wir wieder die letzten, die am Ende zur Talfahrt in den Sessellift einsteigen. Auf eine letzte Abfahrt verzichten wir sicherheitshalber, um nicht zu viel Dreck mit ins Auto zu schleppen.
Wir fahren hinüber zur Passhöhe, auf der Suche nach etwas zu essen und einer Toilette. Dort herrscht inzwischen Hochbetrieb. Motorradfahrer, Radfahrer, Spaziergänger und Autofahrer bevölkern den Parkplatz. Das dortige Restaurant entpuppt sich als besserer Kiosk, das Essen ist von eher zweifelhafter Qualität und die Toiletten sind außer Betrieb. So bleibt uns nichts anderes übrig, als vor unserer geplanten Nachmittagswanderung in den Nationalpark noch einen Abstecher hinunter nach Bonneval-sur-Arc zu unternehmen und dort noch einmal einzukehren. Anschließend fahren wir wieder hinauf in Richtung Iséran, um auf halber Höhe den „Sentier Balcon“ entlang nach Westen zu wandern. Der Ausblick von dort oben ist grandios, im weiten Rund grüßen die um diese Jahreszeit noch strahlend weißen Gletscher hoch über dem Tal der Arc, die an einem dieser mächtigen Eisfelder ihren Ursprung nimmt. Trincerones Ziele sind wie immer ambitioniert, zum Refuge du Carro ist eine einfache Gehzeit von knapp vier Stunden angegeben. Selbst mit geeignetem Schuhwerk ein nicht zu unterschätzender Marsch. So trennen wir uns irgendwann, denn in Sambas durchs Hochgebirge zu marschieren ist auf Dauer doch ein bisschen anstrengend für die Fußsohlen. Zusammen mit starli mache ich mich auf den Rückweg zum Parkplatz, während trinc und seine Freundin dem Weg noch ein Stück weiter folgen wollen, um vielleicht doch noch bis zu besagter Hütte zu gelangen.
So bleibt am Ende des Tages noch ein bisschen Zeit für eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, nämlich dem Herumklettern in sommerlich-einsamen, verlassenen Seilbahnen. Wir halten Ausschau nach dem alten Skitunnel, statten dem Stationskomplex oberhalb von Le Fornet einen Besuch ab, machen einen Abschiedsbesuch bei der Solaise-Pendelbahn von 1942, die demnächst abgerissen werden soll und werfen in La Daille noch schnell einen Blick auf die alte Télécabine und einen der letzten verbliebenen Yan-Sessellifte im Espace Killy.
Am späteren Abend treffen wir uns wieder zum Essen in Val Claret. Todmüde falle ich wieder nach Mitternacht ins Bett.
Gegen 5:30 Uhr am nächsten Morgen erwache ich aus einem unruhigen Schlaf, erschöpft von den beiden intensiven Vortagen mit ihrer zu kurzen Nachtruhe und mit einem unangenehmen Ziehen im Hinterkopf. Ich werde unruhig, schließlich habe ich eine für meine Verhältnisse ungewohnt lange Heimfahrt vor mir. So erscheint es mir zu riskant, wie verabredet heute noch einmal an der Grande Motte Ski zu fahren und damit voraussichtlich erst nachmittags den Heimweg antreten zu können. Also räume ich meine Sachen zusammen und mache mich gegen halb sieben auf die Heimfahrt, nicht ohne ein ziemlich schlechtes Gefühl gegenüber trinc und starli, denen ich die Situation per SMS nur unzureichend erklären kann.
Doch bald schon zieht mich die morgendliche Stimmung in ihren Bann. Es ist ein grandioser Tag, keine Wolke trübt den Himmel, die Berge erstrahlen im Licht der noch nicht allzu hoch stehenden Sonne, es ist Sonntag und niemand ist um diese Zeit unterwegs. Immer wieder muss ich anhalten und die Kamera auspacken, selbst wenn ich oft nur aus dem geöffneten Fenster heraus fotografiere um nicht allzu viel Zeit zu verlieren. Die Aussicht hinüber nach Les Arcs und weiter hinunter nach Bourg-St.-Maurice, Richtung La Plagne und später auch zum nahen Mont Blanc ist einfach zu genial. So dauert es einige Zeit, bis ich die ausgestorbene Passhöhe des Petit St. Bernard erreicht habe. Später im Aostatal biege ich diesmal nach links ab und folge den Hinweisschildern in Richtung Courmayeur. Der Tunnel nach Chamonix ist zwar sündhaft teuer aber die Strecke dort entlang nach Martigny ist etwas schneller als über den Grand St. Bernard und außerdem bin ich dort noch nie gewesen.
Bei jeder Gelegenheit schweift mein Blick in der Folge über dem Talschluss hinauf zum Toulagletscher und zu unserer schweißtreibenden Abfahrt von 2008. Ich habe nicht einmal Augen für die Baustelle bei der Punta Helbronner, so sehr bin ich auf dieses Motiv fixiert, bis ich am Tunnelportal angekommen bin.
Völlig unvermittelt hat sich zwischendurch meine körperliche Verfassung gebessert, die Kopfschmerzen sind weg und ganz entgegen meiner Erwartung fühle ich mich inzwischen wieder einigermaßen fit und ausgeruht. Nur das schlechte Gewissen gegenüber meinen Gefährten ob der überstürzten Abreise plagt mich ein bisschen. Durch Chamonix hindurch wird der Verkehr etwas dichter, die ersten Touristen sind unterwegs. In Argentière mache ich zum ersten Mal Pause, um endlich einmal einen Blick auf die alte Montaz-Sesselbahn mit ihrem langen Kettenförderer zu werfen, bevor sie vielleicht irgendwann ersetzt wird.
Ab dem Col des Montets läuft der Verkehr wieder flüssiger, nun fahre ich entgegen dem Ausflugsverkehr. So erreiche ich bald Martigny und damit die sonntäglich leere Schweizer Autobahn.
Kurz vor Bern habe ich eine Idee. Es ist heiß im Flachland, einer der ersten richtigen Sommertage in diesem Jahr. Warum also nicht zum Ende dieser Tour noch einen kurzen Besuch in Konstanz machen und das verlängerte Wochenende standesgemäß mit einem Bad im Bodensee beenden? Gesagt, getan, ein kurzer Anruf genügt um die notwendigen Maßnahmen in die Wege zu leiten. Gegen 14 Uhr erreiche ich die Stadt, finde schnell das bereitgestellte Fahrrad und bin kurze Zeit später draußen am Hörnle, wo dank des frühsommerlichen Wetters Hochbetrieb (und Parkplatznot, daher der Umstieg aufs Fahrrad) herrscht. Trotzdem findet sich etwas abseits noch ein ruhiges Plätzchen, wo ich entspannt vor mich hin dösen kann.
Erfrischt und gestärkt verlasse ich Konstanz zweieinhalb Stunden später, und auch wenn mich auf dem Weg zur A 81 der Rückreiseverkehr voll erwischt, genieße ich die restliche Heimfahrt noch einmal in vollen Zügen. Hinter mir liegt ein unglaubliches Wochenende, das beste seit sehr, sehr langer Zeit.