DMC und DLM

„1984, le télépherique est enfin débrayable“*. Mit diesem Slogan bewirbt der französische Seilbahnhersteller Pomagalski (Poma) 1984 eine neue Art von Seilbahn, die „Seilbahn der Zukunft“ (so die euphorische Eigenwerbung). Ein Jahr zuvor hat der französische Ingenieur Denis Creissels die zugehörige Idee als Patent eingereicht: Eine Umlaufseilbahn mit zwei unabhängig angetriebenen, parallelen Förderseilen, die in der Lage sein soll, wie Pendelbahnen weite Seilfelder zu überbrücken und dabei eine kontinuierlich hohe Förderleistung zu erzielen. Ein Versuch also, die Vorteile von klassischen Pendel- und Umlaufbahnen in einem neuen System zu vereinen.
Auf die Wintersaison 1984 wird im französischen Örtchen Villeneuve in der Nähe von Briançon eine erste Bahn dieser Art eröffnet, die noch über eher bescheidene Leistungsdaten verfügt und über eine Länge von ca. 1,7 km gerade einmal 1270 Pers./h zu befördern vermag. Angesicht von Lage und Trassierung dieser Anlage – sie endet im Nirgendwo und für den Wintersportler ist eine zusätzliche Sesselliftfahrt erforderlich, um ins Skigebiet zu gelangen – darf vermutet werden, dass es sich um einen ersten Versuch handelt, mit dem das Konzept in der Realität erprobt werden sollte.
Durch die zwei horizontal parallelen Förderseilstränge im Abstand von ca. 80 cm, an denen die Fahrbetriebsmittel mit betrieblich lösbaren Vierfach-Klemmapparaten befestigt werden, ergibt sich eine gegenüber herkömmlichen Einseilumlaufbahnen deutlich erhöhte Windstabilität, die wiederum eine höhere Einfahrgeschwindigkeit in die Stationen ermöglicht. Außerdem können Gondeln mit einem großen Fassungsvermögen von 20-25 Personen verwendet werden, wodurch selbst bei hohen Förderleistungen nur wenige Fahrbetriebsmittel notwendig sind, was wiederum die Wartungskosten niedrig halten soll. Denn während eine 3000 m langen Einseilumlaufbahn mit Sechserkabinen und einer Seilgeschwindigkeit von 5 m/s, wie zu dieser Zeit in etwa Stand der Technik, rund 240 Fahrbetriebsmittel benötigt um eine Förderleistung von 3000 Pers./h zu erzielen, benötigt ein DMC mit 25er-Kabinen bei gleicher Länge und einer Geschwindigkeit von 6 m/s nur etwa 48, was gerade einem Fünftel entspricht. Bedenkt man, dass für die Einseilumlaufbahn zu dieser Zeit Doppelklemmen notwendig sind, ergeben sich zweieinhalb mal weniger zu wartende Klemmen für das DMC (192 zu 480).
Insbesondere die Sicherstellung des möglichst exakten Gleichlaufs der beiden Seilstränge erweist sich jedoch als große Herausforderung. Beide Seilschleifen werden durch unabhängige Antriebseinheiten bewegt, deren Gleichlauf im Normalbetrieb elektronisch über die Stromaufnahme ausgeregelt wird. Für den Bremsfall sind die beiden Getriebe über ein Differenzial gekoppelt. Auch die Seilspannung erfolgt für beide Seile separat. Ein einfaches Zahlenbeispiel verdeutlicht, welche Genauigkeit bei der Regelung der Geschwindigkeit erforderlich ist: Bei einem konstanten Geschwindigkeitsunterschied von nur 1 mm/s ergibt sich bei einer Sollgeschwindigkeit von 6,0 m/s auf einer Strecke von 3000 m eine Laufwegsdifferenz zwischen den Förderseilen von ca. 50 cm – d.h. der eine Seilstrang hat sich gegen den anderen um 50 cm verschoben. Unter anderem deshalb ist bei der Weiterentwicklung des DMC zum Funitel ab ca. 1989 ein über einjähriger Testbetrieb notwendig, um alle Probleme mit dieser Antriebskonzeption zu beseitigen.

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Das erste DMC von 1984

Neben der Erstellung von Neuanlagen sieht Creissels vor allem im Ersatz von herkömmlichen Pendelbahnen ein wichtiges Anwendungsfeld für sein neues System. Durch die Möglichkeit, weite Seilfelder zu realisieren, können bestehende Trassen beibehalten und vorhandene Stützenbauwerke und Stationen gegebenenfalls adaptiert werden. Auch im innerstädtischen Transportverkehr soll das DMC eingesetzt werden können.
Um die Entwicklung auch in den anderen Alpenländern zu forcieren, vergibt Creissels Exklusivlizenzen für Österreich an Doppelmayr sowie für Italien an Agudio. Tatsächlich entstehen neben den sieben DMCs, die Poma in Frankreich erstellt, auch noch zwei Agudio-DMCs in La Thuile und Arabba. In Österreich findet dagegen 1987/88 eine maßgebliche Weiterentwicklung statt. Da das DMC-System mit seiner elektronischen Gleichlaufregelung als zu unsicher erscheint, wird nach einer mechanischen Lösung gesucht, um den Gleichlauf der Seilstränge zu gewährleisten. Ergebnis ist ein System namens DLM (DoubleLoop Monocable): An Stelle der beiden unabhängigen Seilschleifen wird ein einzelnes Endlosseil doppelt gelegt, über einen einzelnen Spannwagen abgespannt und über zwei auf einer gemeinsamen Achse fixierte Antriebsscheiben bewegt. Die Antriebskraft kommt, wie beim DMC, von zwei separaten Antriebseinheiten, die beide von unterschiedlichen Seiten auf die Antriebsachse wirken.
Der Gleichlauf der Seilstränge ergibt sich beim DLM-System automatisch, sofern die beiden Antriebs-Seilscheiben über einen identischen Umfang verfügen. Auch hier können kleinste Abweichungen bereits zu großen Verschiebungen führen. Da aber der identische Umfang im Probebetrieb durch Abschleifen der Seilscheibenfutterung sichergestellt werden kann und die beiden Seilscheibenfutterungen anschließend, wie im Versuch gezeigt wurde, zu gleichmäßiger Abnutzung tendieren, kann eine aufwendige elektronische Regelung wie beim DMC entfallen.

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DLM Gaislachkoglbahn, Sölden (Österreich)

Nach ebendiesem DLM-System entsteht ein einzigartiges Einzelstück: Die Doppelseilumlaufbahn Gaislachkogl (Porträt) ersetzt ab 1988 in zwei Sektionen eine in die Jahre gekommene Pendelbahn im österreichischen Sölden. Das doppelt gelegte Förderseil läuft in der Mittelstation durch, so dass beide Sektionen gemeinsam ab der Talstation angetrieben werden können. Hierfür ist ein 16 km langes Endlosseil erforderlich, das ausnahmsweise über mehr als einen Spleiß verfügen darf. Dieses lange Seil, das prinzipbedingt über sehr viele Seilscheiben umgelenkt muss, erweist sich in der Folge als die Achillesferse dieser Konstruktion: Im Schnitt muss es etwa alle vier bis sechs Jahre ausgewechselt werden. Aus diesem Grund wurde die Gaislachkoglbahn im Sommer 2010 ersetzt, womit ein einzigartiges Stück Seilbahntechnik verloren ging.

Die Ära des ursprünglichen DMCs ist Ende der 1980er Jahre vorbei. 1989 geht im italienischen Arabba als letzte Anlage das DMC Europa in Betrieb. Gleichzeitig wird die Technologie von Denis Creissels selbst zum Funitel weiterentwickelt, das sich in den folgenden Jahren durchsetzt.

Liste der realisierten DMCs:

Pontillas Villeneuve (F) Poma 1984
Bettaix St. Gervais (F) Poma 1984
Jandri Express 1 & 2 Les Deux Alpes (F) Poma 1985
Grandes Platières Flaine (F) Poma 1985
Grandes Rousses 1 & 2 Alpe d’Huez (F) Poma 1986
Les Suches La Thuile (I) Agudio 1988
Europa Arabba (I) Agudio 1989

* dt. in etwa: „1984 ist die Luftseilbahn endlich kuppelbar“